Das Stalag Senne – ein stiller Ort

Nachdem ich über das Stalag Senne – Stalag Stukenbrock oder Stalag 326 VI K genannt – in dem Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen“ von Charlotte Wiedemann gelesen hatte, beschloss ich sofort, der unweit von Detmold gelegenen Gedenkstätte einen Besuch abzustatten.

Das ehemalige Kriegsgefangenen Lager liegt auf dem Gelände der heutigen Polizeischule und ein Besuch dort ist etwas aufwendiger als in „normalen“ Museen. Das Museum ist Dienstag und Donnerstagnachmittag geöffnet, donnerstags mit Führung, für die man sich vorher per Homepage anmelden muss. An der Pforte der Polizeischule tauscht man seinen gültigen Personalausweis gegen einen Besucherausweis, mit dem man die Dokumentationsstätte – und nur die – besuchen darf. Fotografieren ist nirgendwo erlaubt, auch nicht in der ehemaligen Gefangenenbaracke, in der sich das Museum befindet.

Wir hatten uns für eine Führung angemeldet und da sich außer uns für diesen Termin niemand gemeldet hatten, hatten wir eine intensive und eindringliche Privatführung. Das kleine Museum in der ehemaligen Gefangenenbaracke ist voller Dokumente, Fotos, Zeitzeugenberichten, die ein erschütterndes Bild des damaligen Lagers, der NS Bürokratie und geistigen Haltung der meisten damals lebenden Deutschen vermitteln. Vom "Russeneinsatz" profitierten nicht nur große produzierende Firmen im Ruhrgebiet, sondern auch kleine landwirtschaftliche Betriebe vor Ort. Gegen die wenigen menschlichen Gesten (z.B. Schulkinder, die ihre Pausenbrote aus Mitleid über den Zaun warfen) wurde mit Strafen und Verfügungen vorgegangen. Wir haben viel über den Alltag im Lager, der Art der „Arbeitseinsätze“ der Gefangenen und ihren Kampf ums tägliche Überleben gelernt. Das Stalag Senne diente hauptsächlich als Durchgangs- und Internierungslager für mehr als 300 000 sowjetische Kriegsgefangene, die dort unter katastrophalen Bedingungen teilweise in selbst gegrabenen Erdhöhlen vegetierten. Die ausgemergelten Gestalten wurden vom Lagerarzt fotografisch festgehalten, zur Dokumentation der „minderwertigen Rassemerkmale“. Die wenigen französischen und andere westlichen Kriegsgefangene wurden in einem separaten Teil des Lagers interniert und da sie nach NS-Logik rassisch nicht minderwertig waren auch etwas besser behandelt.

Verstörend. Unfassbar.

Es war für uns selbstverständlich, dass wir gemeinsam mit der Museumsdame nach dem Besuch der Dokumentationsstätte noch zum Ehrenfriedhof gegangen sind. Die Kriegsgefangenen selbst haben dort direkt nach der Befreiung einen Ort der Erinnerungskultur geschaffen. Es ist engagierten und mutigen Menschen, dem „Arbeitskreis Blumen für Stukenbrock e.V.“, zu verdanken, dass der Friedhof nicht in Vergessenheit geriet. In den 60er und 70er Jahren wollte der Großteil der Bevölkerung nicht mehr an die Vergangenheit erinnert werden. Im ehemaligen Stalag waren inzwischen Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht - bis zur Gründung der Polizeischule 1970. In Zeiten des Kalten Krieges wurde die Rote Fahne auf dem von den Überlebenden geschaffenen Obelisken auf dem Friedhof entfernt und bis heute nicht wieder ersetzt.

Angehörige nehmen weite Reisen auf sich, um dem getöteten Vater, Opa oder Uropa Erde aus der Heimat, Süßigkeiten oder Blumen mitzubringen, die dann am entsprechenden Massengrab platziert und abgelegt werden. Man sieht auch Plaketten mit Fotos der Verstorbenen und hier und da stehen Grablicher. Es gibt 36 Reihen mit Massengräbern, jede Reihe ist 110 m lang. Schätzungsweise 65 000 Opfer liegen dort begraben. Die Namen derjenigen, die man zuordnen konnte, sind auf Steelen neben den vergleichsweise wenigen (ca. 800) Einzelgrabstätten zu lesen.

Der Friedhof hat heute Denkmalstatus und ist im Gegensatz zu der Dokumentationsstätte frei zugänglich. Die Grabstätten werden auch nicht nach dem Erreichen einer bestimmten Liegezeit aufgelöst, denn Tote in Kriegsgräbern haben eine unbegrenzte Ruhezeit.

Jedes Jahr am Antikriegstag – 02. September – werden dort Blumen niedergelegt. Blumen für die Toten von Stukenbrock. 

Ehrenfriedhof in Stukenbrock
Obelisk auf dem Friedhof.

Stalag Senne, Dokumentationsstätte
Besuch im Museum.

 reisehop auf Instagram

 

Kommentare

  1. Danke für den eindrücklich Bericht.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Dankeschön. Ein stiller Ort, der bei uns ein nachhaltiges Echo hinterlassen hat.

      Löschen

Kommentar veröffentlichen